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Systemisch nicht systematisch ... oder etwa doch?

Aktualisiert: 6. Mai

Fast alle Rechtschreibprogramme ändern systemisch zu systematisch um; und da mich in letzter Zeit vermehrt die Frage erreicht, was systemisch eigentlich bedeutet, hier ein Erklärungsversuch...


"Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie", Kurt Lewin

Systemisch wird oft als eine Ableitung von Ansätzen, Interventionen und Praktiken aus der Systemtheorie bezeichnet. Unter den Begriff systemisch werden somit oft Methoden und Handlungsweisen zusammengefasst. Gemeint ist jedoch eher eine Haltung und Sichtweise.


Die Systemtheorie gliedert sich in zahlreiche Varianten mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten. Die meist zitierte und verwendete geht auf Niklas Luhmann zurück und wird oft als Neuere Systemtheorie betitelt. Die Systemtheorie ist ein beschreibendes Denkwerkzeug und bietet somit keine direkten Antworten oder Vorgehensweise für die Praxis, sondern die Möglichkeit Systeme zu beobachten und zu beschreiben.


Eine gute Theorie kann hilfreich sein, wenn es komplex wird. Sie bietet Haltegriffe und eine Orientierung, um Ideen sowie Maßnahmen einordnen und reflektieren zu können (vgl. Kieser, B. et al.; Boos, F., S. 108). Der Fokus liegt dabei auf der Beobachtung und Beschreibung von Systemen und den Beziehungen (Ellebracht, H. et al., Kap. 1.2.1). Die Systemtheorie steht in der Wissenschaft und Praxis in enger Verbindung zu weiteren Theorien wie dem Konstruktivismus, Gruppendynamik, der Erkenntnisbiologie, der Kybernetik (Steuerung von Systemen) oder Chaos- und Kreativitätsvorschung sowie der Selbstorganisation (Zustandsveränderungen von Systemen).


Wie lässt sich systemisch in leichten Worten zusammenfassen: Systemisch ist eine Betrachtungsweise, um mit oder in Systemen (Organisationen, Personen) arbeiten zu können (indem wir sie beobachten, beschreiben und diese Erkenntnisse in die Kommunikation bringen). Konkret wird Aufmerksamkeit gezielt fokussiert, vielfältig aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen und das Spektrum an Deutungsmöglichkeiten und somit auch Handlungsalternativen erhöht.

Wichtig ist dabei zu unterscheiden, dass es um eine Theoriebildung in der Praxis geht; anders gesagt: das Missverständnis zu vermeiden, dass ein Patentrezept bzw. logische Handlungsanweisungen aus der Theorie abgeleitet werden könnten.





Was für ein System eigentlich?

 

Spannenderweise unterscheidet man zunächst einmal zwischen technischen (allopoietischen) und selbsterzeugenden (autopoietischen) Systemen. Zu letzteren werden in der Theorie auch Organisationen als eine Form der sozialen Systeme zugeordnet (vgl. Willemse, J. et al., S. 21–54). Spannend, weil der Begriff Organisation vom griechischen Wort Organon stammt, dass sowohl mit Werkzeug oder Instrument, als auch mit Organ übersetzt werden kann (grimmischen Wörterbuch, 1889).

Zu Beginn der Entstehung von Organisationen lag der Schwerpunkt der Betrachtungsweise auf auf dem "organischen" Schema und somit der Beziehung des "Ganzen" zu seinen "Teilen" (vgl. Luhmann, N., S. 11). Durch die industrielle Revolution sind andere Aspekte der Metapher in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt - insbesondere Frederick W. Taylor (1856-1915, "Scientific Management") konzeptualisierte Fabriken als Maschinen (vgl. Simon, F. B., S. 11), womit eine Zuordnung zu technischen Systemen das Bild auf Organisationen prägte.


Die Systemtheorie setzt bei dieser Unterscheidung an und leitet aus der Zuordnung Merkmale von sozialen Systemen (u.a. Organisationen) ab, aus denen wiederum Prämissen für die Praxis gezogen werden können. Sie bietet eine Möglichkeit Systeme zu beschreiben und ihre Funktionsweise zu erklären und bietet somit Ansatzpunkte Impulse für Veränderungen zu setzen (vgl. Ellebracht, H. et al., Kap. 1.2.2).




Merkmale von Organisationen

 

Für alle, die in die theoretischen Grundlagen eintauchen möchten...


Autopoietisch

Selbsterzeugend oder selbstreferenziell übersetzt bedeutet, dass sie diese Systeme sich mit ihren eigenen Prozessen als Einheit konstituieren und somit aufrechterhalten, indem sie sich zu ihrer Umwelt abgrenzen. Daraus ergibt sich, dass das Überleben (Fortsetzung der Autopoiese) als übergeordneter Zweck gilt (vgl. Simon, F.B., S. 23), indem (vgl. Simon, F.B., S. 31; Nagel, R., Kap. 1.2) sie sich auf relavante Umwelten einstellen.


Dauerhaftigkeit

Organisationen als eine spezifische Art sozialer Systeme unterscheiden sich zuerst einmal durch ihre Dauerhaftigkeit. Beispiele findet man leicht in der Praxis: Gründer/ Vorstände prägen Strukturen, die sich über Jahre konstant halten oder Interaktionsmustern sind zu beobachten, die sich in vielen Bereichen einer Organisation wiederholen und auch beim Wechsel des Personals beibehaltet werden oder, wer kennt sie nicht, die Geschichten von früher die immer noch in den Fluren erzählt werden?! Trotz der Austauschbarkeit der Personen können Handlungsmuster konstant gehalten werden (vgl. Simon, F.B., S. 16).

"Organisationen überleben ihre Gründer (..) und sind der persönlichen Umdefinition relativ unzugänglich (…). Menschen bewegen sich in diese Formen hinein und aus ihnen heraus; in den Ergebnissen erhält sich eine bemerkenswerte Konstanz (…). Die Tatsache, dass Formen spezifische Individuen transzendieren, bedeutet, weil es eben die überdauernde Form ist, welche die Handlungen des wechselnden Personals koordiniert und die Ergebnisse hervorbringt", vgl. Weick, K.E., S. 53f.)

Kommunikation

Das konstruierende Merkmal von Organisationen ist in der Kommunikation begründet.

Kurz gesagt: Und ich finde keine besseren Worte als Fritz B. Simon: "Der überlebenssichernde "Trick" der Organisation besteht darin, dass sie - mithilfe ihrer eigenen Routinen (z.B. Rekrutierung von Personal) - dafür sorgt, dass die Teilnehmer an der Kommunikation austauschbar bleiben, während im Gegensatz dazu die Kommunikationsmuster reproduziert und ihre Funktionen (mehr oder weniger) konstant erhalten werden könnten." (vgl. Simon, F.B., S. 16).

In Abgrenzung zu Organisationen, in denen Kommunikation die Dauerhaftigkeit begründet, sind es bei uns Menschen (psychische Systeme) biochemischen Prozesse, die das Überleben sichern. In Organisationen tsti stellt  diese entscheidende Aktivität die Kommunikation dar.


Lang beschrieben: "Funktion menschlicher Kommunikation besteht in der Koordination von Akteuren und ihren Aktionen und erfolgt durch wechselseitige Interpretation des beobachteten Verhaltens" (vgl. Simon, F.B., S. 16). Niklas Luhmann spricht bei Kommunikation von einer dreifachen Selektion, die eine Auswahl und Kopplung von Information, Mitteilung und Verstehen beinhaltet. Wobei auf den Konstruktivismus referenziert wird, dessen Grundannahme es ist, dass unsere Sicht auf die Dinge, kein Abbild der Realität ist, sondern immer ein individuelles Konstrukt und es somit keine Realität an sich gibt. Wir schreiben einem wahrgenommen Verhalten eine Bedeutung zu. Für soziale Systeme bedeutet dass, dass die Kommunikation weitergeführt werden muss, um Anschlussfähig zu bleiben.


System- & Umweltdiffernez

Da Kommunikation auch unabhängig von der Zeit, Ort und Personen erfolgen ist eine Abgrenzung zwischen Innen und Außen notwendig (vgl. Simon, F.B., S. 16).



Strukturdeterminiertheit

Von der Grenze zwischen Innen und Außen kommen wir zu einem weiteren Merkmal - dem Verhalten zwischen System und Umwelt. Veränderungen und Ereignisse in der Umwelt determinieren nicht die Wirkung innerhalb eines Systems (es besteht keine Ursache-Wirkungs-Beziehungen) (vgl. Simon, F.B., S. 23). Systeme sind in der Lage zu lernen und ihre Strukturen anzupassen und somit unterschiedlich auf äußere Reize reagieren (vgl. Simon, F.B., S. 23).


Operationale Schließung

Weiterhin folgt, dass Organisationen in ihren internen Operationen nur auf die eigenen, internen Zustände bzw. Zustandsänderungen reagieren - und nicht auf die äußeren Ereignisse. Die internen Reaktionsweisen folgen dabei dem Alles-oder-Nichts-Prinzip (vgl. Simon, F.B., S. 23). Diese spezifische Prozessform wird in der Systemtheorie "autopoietisch" beschreiben und verweist auf die Selbstbezüglichkeit eines Systems in Abgrenzung zur Umwelt (vgl. Maturana, H., et al.).





Bedeutung für die Praxis

 

Eine kleine Auswahl, was die Merkmale von Organisationen für die Beratungspraxis und Organisationsentwicklung bedeuten.


Bezug zum Gesamtsystem

Die systemische Betrachtungsweise lenkt die Aufmerksamkeit auf das Zusammenwirken und die Wechselwirkungen der verschiedenen Elemente in einem System. Für die Beratung ergibt sich hieraus, dass trotz begrenztem Interaktionssystem die gesamte Organisation betrachtet wird, um nachhaltige Entwicklungen zu erzielen (vgl. Krizanits, J., S. 27). Bei einem spezifischen Auftrag z.B. Verbesserung der Produktivität für eine Abteilung, werden somit nicht nur die Prozesse, Strukturen und weitere Elemente der Abteilung fokussiert, sondern zusätzlich die Muster und Wechselwirkungen innerhalb Organisation berücksichtigt. Somit wird ein Bezug zum Gesamtsystem hergestellt und das Zusammenwirken der verschiedenen Elemente berücksichtigt.


Beobachtungen

In der Systemtheorie geht es um die Beobachtung und Beschreibung von Systemen. Soziale Systeme sind über ihr Handlungen (in der Systemtheorie als "Kommunikation" beschrieben) definiert (vgl. Krizanits, J., S. 19f.). Kommunikation koordiniert Akteure und deren Aktionen durch einen wechselseitigen Interpretationsprozess des bobachtbaren Verhaltens

Kommunikation hat die Funktion in der Koordination von Akteuren und ihren Aktionen durch wechselseitige Interpreatioen des beobachteten Verhaltens (vgl. Simon, F.B., S. 16). Hierbei wird unter mölgichen Mitteilungen, mögliche Informationen (bewusst oder unbewusst) ausgewählt und diesen wird eine Bedeutung zugeschrieben (vgl. N. Luhmann, aus Simon, F.B., S. 16). Dieser Kommunikationsprozess kann nicht direkt beobachtet werden - wir können nur erahnen, welche Worte jemand wie versteht, wo aktuell die Aufmerksamkeit liegt und wie diese wiederum verstanden werden. Das zeigt alleine eine Übung im Team: Indem nachgefragt wird, was verstanden wurde, wie jemand es in seinen/ihren Worten wiedergeben würde. Kommunikation kann somit nur erschlossen werden (vgl. N. Luhmann, aus Simon, F.B., S. 16). Somit behilft man sich, indem direkt beobachtbare Phänomene in den Fokus rücken: die beteiligten Akteure (Personen, Abteilungen, Märkte, etc.) und ihre Verhaltensweisen/ Handlungen. Es wird auf das Verhalten von Individuuen Bezug genommen mit dem Versuch diesen Selektions- bzw. Auswahl- und Verstehensprozess zu reflektieren, um andere Perspektiven einnehmen zu können und letztendlich Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.


Spezifische Kommunikationsangebote

Aus den Merkmalen sozialer Systeme (Organisationen) ergibt sich zwangsläufig, dass Berater nicht direkt auf das Systemen einwirken können (vgl. Krizanits, J., S. 27). Soziale Handlungsmuster bzw. Kommunikationsstrukturen verändern sich nur als Folge eines gemeinsamen Such- und Sinngebungsprozess. Beratung sollte demnach versuchen diese Prozesse durch spezifische Kommunikationsangebote zu initiieren und zu begleiten (vgl. Krizanits, J., S.19f.). Indem bestehende Bedeutungsgebungen und Kommunikationslinien zum Gespräch werden und in interaktiven Prozessen neue konstruiert werden können.

Wir arbeiten mit Personen, die über verbale und non-verbale Kommunikation Perspektiven und Anschlüsse in das System einbringen. Es geht um die Begleitung, zur Schaffung von Klarheit, Fokus und Eröffnung von Handlungsalternativen sowie falls notwendig oder gewünscht die Begleitung Umsetzung und Festigung (vgl. Ellebracht, H. et al., Kap. 1).


Kontextbezug und Ergebnisoffenheit

Mit dem Hintergrund, dass sich Handlungsmuster in Organisationen immer wieder verändern (können), ergibt sich zwangsläufig, dass der jeweilige Kontext einbezogen werden muss. Selbsterzeugende Systeme reagieren jeweils anders und passen ihre Prozesse an - so bauen beispielsweise Menschen Abwehrstoffe nach einer Erkältung auf und ebenso entwickeln Organisationen ihre internen Funktionsmuster weiter (vgl. Krizanits, J., S. 19f.). Anders als bei technischen Systemen - bediene ich einen Kaffeeautomaten kann ich mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen einen Kaffe zu erhalten. Für die Praxis bedeutet dies z.B. auch der Vergangenheit die Aufmerksamkeit zu schenken, Hypothesen statt Zuschreibungen zu bilden in Experimenten vorzugehen.

Schleifengang

Ähnlich wie im agilen geht es im systemischen um Reflexion, Annahmen (Hypothesen) zu bilden, Experimente zu planen und durchzuführen und aus diesen zu lernen.

Das Vorgehen geht auf die Action-Research-Schleife von Kurt Lewin zurück (vgl. Simon, F.B.) Es geht um die Beobachtungen und Beschreibung, um diese anzubieten und in die Kommunikation einzubringen (vgl. Krizanits, J., S. 27).



Systemische Schleife
Kunst des Schleifengangs

Den Ausführungen von Gunther Schmidt zu Folge, ist die Systemtheorie vor allem durch die Mailänder und später die Heidelberger Gruppe geprägt wurden. Anfangs war es ein sehr kognitiv fokussierter Ansatz - also strukturgebend und systematisch. Emotionen traten in den Hintergrund und sind erst wieder in der weiteren Ausarbeitung der Systemtheorie insbesondere durch Dynamiken und Wechselwirkungen einbezogen wurden. Daher ist systemisch vielleicht gar nicht so weit entfernt vom systematischen ;)






Literatur

Boos, Frank/ Buzanich‑Pöltl, Barbara (2020): Moving Organization. 1. Aufl. Schäffer-Poeschel.

Ellebracht, Heiner/ Lenz, Gerhard/ Geiseler, Lars/ Osterhold, Gisela (2018): Systemische Organisations- und Unternehmensberatung. 5. Aufl. Springer Gabler.

Kieser, Alfred/ Ebers, Mark (2006): Organisationstheorien. 6. Auflage. Kohlhammer.

Krizanits, Joana (2022): Einführung in die Methoden der systemischen Organisationsberatung. 4. Aufl. Carl-Auer.

Simon, Fritz B. (2013): Einführung in die systemische Organisationstheorie. 4. Aufl. Carl-Auer.

Weick, Karl E. (1979): The Social Psychology of Organizing. 2. Edition. Publisher, Random House. Original from, the University of Michigan. Digitized, Nov 8, 2007

Willemse, Joop/ von Ameln, Falko (2018): Theorie und Praxis des systemischen Ansatzes. Springer Fachmedien.


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